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Archive for Juni 2012

 31.05.2012. Weltspieltag. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich stehe allein im zweiten Stock in einer Nische des langen Schulflures. Es ist stockdunkel, mein Herz klopft, ich unterdrücke ein Kichern und irgendwie ist mir auch mulmig. Ein vertrauter Ort, eine ungewohnte Zeit, ein anderer Kontext. Ich warte auf meine Schülerinnen und Schüler einer Förderschule. Wir spielen „Verstecken im Dunkeln“, das Ende unseres von ihnen liebevoll so genannten „Geilen Tages“, die Belohnung für vier Wochen gute Mitarbeit. Was wir machen, wird von Ihnen vorgeschlagen und demokratisch abgestimmt.  Eine Übernachtung wollten sie. Mein Referendar ist begeistert, ich denk an Work-Life-Balance.

Da, sie kommen, ich höre sie, es rauscht in meinen Ohren. Gleich werden sie mich entdecken, soll ich sie erschrecken?  Doch sie laufen an mir mit Tarzangeschrei vorbei. Sie haben mich tatsächlich nicht gesehen. Ich muss schmunzeln und werde unvorsichtig, da schlurft ein mutiger Schüler allein hinter der Rotte her, wir erschrecken beide und müssen erleichtert lachen – ein tolles Spiel.

Was spielt die Welt?

Deutschland gegen Holland spielt 2:1- jeder weiß dieses Sprachkürzel zu deuten, denn auch heute am 14.06.2012 ist wieder Weltspieltag, weil jeden Tag Weltspieltag ist. Zum Glück! Spiel und Mensch gehören zusammen wie Feuer und Flamme. Wie Toffi und Fee. Wie Fuß und Ball. Spiel stiftet Identität, Spiel macht Sinn. Spiel macht Kontakt, Spiel bewegt, Spiel macht Spaß. Spiel macht schlau.

ludo cogito sum!

Von klein auf an spielen wir Funktionsspiel, Symbolspiel, Rollenspiel, Brettspiel, Mitmachspiel, Bewegungsspiel, Laufspiel, Lernspiel, Konzentrationsspiel, Mannschaftsspiel, Machtspiel, Kennlernspiel, Liebesspiel, Geduldsspiel, Spiel- ein Tausendsassa? Ein Begriff für so viel Diversität?

Spiel an sich gibt es gar nicht. Und irgendwie doch. Ein seltsames Ding. Die Anfänge des Spiels waren das mutige Explorieren in der sich zunehmend kultivierenden menschlichen Umwelt. Spiel half am Anfang der Menschheit als ritueller Rahmen Übernatürliches zu verstehen, später sozialpolitische Prozesse zu spiegeln.  Auch heute ist Spiel an unserer soziokulturellen Weiterentwicklung stark beteiligt. Welche gesellschaftlichen Veränderungen ergeben sich gerade jetzt aus der Macht der Video-Games und socialnet-flirts? Die Gefühle, Flow-  sind dieselben, die Spielformen vollkommen andere.

Ich wollte wissen, wann dieses Phänomen des Spiels das letzte Mal bewusst wahrgenommen wurde und postete vor einiger Zeit die Frage auf Twitter:

„Wann hast du das letzte Mal im Spiel „Flow“ erlebt?“

Es gab nur eine einzige Rückmeldung. Was hat das zu bedeuten? Spielen Twitterer nicht?  Meine zehnjährige Tochter antwortete: Doch, Twitter ist ja ein Spiel für Erwachsene, weil sie so vertieft darin sind, dass sie einen nicht hören, wenn man ruft!“ – Aha, Flow  eben!

Die Antwort auf die Twitterfrage kam von @ciffi „als ich beim Monopoly mit den Jungs loszog, um im Copyshop frisches #Flow-Geld zu drucken und wir nen Rettungsfonds gründeten.“ und vor dem inneren Auge ploppt ein Film auf, der Wesentliches vom Spiel finden lässt: mich einlassen, konzentrieren, die Welt um mich herum aus dem Focus nehmen, aus einem vorgegebenen Rahmen etwas Eigenes entwickeln, selbstständig handeln, mit anderen zusammen ein gemeinsames Ziel er-finden, es verfolgen, wieder verwerfen, Neues erschaffen, sich spüren, er-leben.

Was ist denn das mit diesem Spiel, wenn irgendwie Spiel alles ist und doch nicht alles Spiel?

Für Rousseau (1762) ist das Spiel die zwanglose Natürlichkeit, für Schiller (1793) ein ästhetischer Zustand, Fröbel (1826) sah es als höchste Stufe der Kindesentwicklung, Kerschensteiner (1923) sah Spiel im Gegensatz zur Arbeit und Bühler (1929) versuchte Spiel durch Funktionslust zu erklären.  Ursprung, Ideal, Konkretion, Prozess- ja, was denn nun?

Der Erziehungswissenschaftler Hans Scheuerl erforschte Mitte des letzten Jahrhunderts intensiv die Spieltheorien von der Antike bis zur Moderne und versuchte die Frage nach dem Wesen des Spiels zu klären.  Weiter ist man bis heute wissenschaftlich auch nicht gekommen. Er fasste das Phänomen so zusammen: „Bisher jedenfalls hat das Spiel noch jeder logischen und definitorischen Endgültigkeit der Philosophien und Wissenschaften sein Schnippchen geschlagen. Das scheint so seine Art: Nicht nur dem theoretisierenden Betrachter, auch dem Spieler selbst schlägt es ja immer wieder sein Schnippchen: Es zieht ihn in seinen Bann, erregt und beglückt ihn; aber sobald er es beherrschen, erzwingen oder festhalten will, entwindet es sich seinem Zugriff oder bricht zusammen. Und doch ist es anderseits zugleich so einfach, dass es schon kleinen Kindern zugänglich ist. Es ist einfach und vielfältig, elementar und hochproblematisch zugleich. Es enthält offenbar eine Fülle von Paradoxien.“

Das Spiel mit dem Spiel

Das hört sich alles sehr vage an und doch gibt es einen Kern. Wer aufmerksam im pädagogischen Spielfeld unterwegs ist, der weiß diese Variabilität von Spiel zu schätzen. Sind es nicht genau jene Qualitäten, die das Leben bunt und lebenswert machen? Warum also nicht spielen mit dem Spiel, um Menschen zu erreichen, um kulturelle Entwicklung bewusst zu leben? Für den Spielpädagogen Rene Reichel bedeutet dies „pädagogisch begründete Absichten methodisch unterstützen. Dazu gehört vor allem: Alle möglichen Ausdrucksmittel heranziehen, weil erst in der Vielfalt von Bewegen, Malen, Sprachen, szenisch Spielen, Musik Machen und Erleben, Körperausdruck, Material Gestalten die ganzen Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen lebendig werden.

Ja, das will ich!  Morgen! Alles inklusive! Am Weltspieltag!

Homo ludens

 

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