„Es könnte alles so EinfachSein, ist es aber nicht!“ (Sportfreunde Stiller)
Mit einem trotzigen „Dennoch“ und der Freude über Gleichgesinnte bei Twitter, freue ich mich bei den Blogger-Themen-Tagen dabei zu sein. Die vielen Beiträge zu #EinfachSein zeigen, dass es Zeit wird für Inperten der Inklusion und, dass die Experten der Exklusion das auch merken…
1986 begann ich Lernbehindertenpädagogik zu studieren. Das war nicht nur gefühlt in einem anderen Jahrhundert. Die Sonderpädagogik blühte in allen Sparten auf, es gab für jeden behinderten Menschen eine besondere Schule, weil es ja Menschen gab, die geistig behindert, sprachbehindert, hörbehindert, körperbehindert oder lernbehindert waren. Und es gab Internate für verhaltensgestörte Kinder. Selbst in dem Paradigma eines ausgrenzenden Schulsystems aufgewachsen, war mir nicht bewusst, was es gesellschaftlich langfristig bedeutete Schulformen nach Intelligenzquotienten oder Sinnesorganen zu erfinden.
Heute, nach mehr als zwei Jahrzehnten Erfahrung als „Sonder“-Schul-Lehrerin an unterschiedlichen Sonderschulen, Förderschulen, Förderzentren mit „lernbehinderten“ Kindern, sehe ich manches anders. Das liegt an den unzähligen Begegnungen mit so unterschiedlichen Menschen, von denen ich so viel lernen durfte. Ja, es stimmt, dass es Bedingungen gibt, die das Leben, die Entwicklung von Menschen und ihre Teilhabe an der Gesellschaft behindern. Aber das macht die Menschen nicht zu Behinderten.
Als Sonderschullehrerin stehe ich in der Verantwortung in ihrer Entwicklung auffällige Kinder umfassend zu testen und gegebenenfalls sonderpädagogischen Förderbedarf feststellen. Ich finde eine genaue Analyse des Entwicklungsstandes grundlegend wichtig, doch ich sehe in vielen Fällen eben nicht die im Kind verortete und gemessene „unterdurchschnittliche Intelligenz“ als Ursache einer Lernbehinderung, sondern gerade die „Behinderung am Lernen“ durch die Umgebung des Kindes als Ursache eines sich nicht entfalten könnenden Entwicklungspotentials.
Ich meine damit die mir in meiner Praxis als Lehrerin ständig begegnende entsetzliche Fratze der Gewalt, die vielen Kindern angetan wird. Am Lernen behinderte Kinder sind häufig Opfer häuslicher Gewalt, doch gerade frühkindliche Traumatisierung durch Gewalt schädigt die Gehirnentwicklung von Kindern.
Ich sehe auch, dass Schule als System paradoxerweise für genau diese Kinder zu einem Ort der Lern-Behinderung wird, wenn sie die Rahmenbedingungen nicht zugunsten sondern entgegen menschlicher Bedürfnisse verändert.
Ein Aha-Erlebnis hatte ich während des Vortrags „Scherben im Kopf“– Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen von Pia Heckel, der Leiterin des Institutes für Psychotraumatologie in Hamburg. Sie machte deutlich, dass Emotionen uns stärker prägen als unserem kontrollierenden Bewusstsein lieb ist.
„Schon ab der 7. Schwangerschaftswoche ist der Mandelkern (Amygdala) unseres Gehirns soweit ausgebildet, dass Angst und andere Stressgefühle repräsentiert werden. Somit empfindet ein Fötus sowohl Wohlbefinden als auch Stressgefühle der Mutter über die jeweilige Hormonausschüttung mit. Diese emotionalen Basiserfahrungen legen die Spur für die eigene Konstruktion der Wirklichkeit im späteren Leben. Ist eine Schwangere häufig Situationen ausgesetzt, die sie als bedrohlich empfindet, wird Ihr Körper von Stresshormonen durchflutet. Diese gelangen auch in die sich ausdifferenzierenden Zellen ihres wachsenden Kindes. Stress wird somit zum ersten Datenknotenpunkt, von dem alle anderen weiteren Verbindungen ausgehen.“
Setzen sich traumatisierende Erlebnisse wie Misshandlungen oder Missbrauch in der frühen Kindheit weiter fort, so muss ein Kind lernen zu überleben – physisch, psychisch und sozial. Ein traumatisierendes Familienumfeld in der Kindheit bietet keine Sicherheit. Für das Kind bedeutet es, ständig in Alarmbereitschaft vor nicht vorhersehbaren Übergriffen zu sein.
Stellen wir uns ein 6-jähriges Mädchen oder Jungen vor, nennen wir sie Milena oder Tim, sie werden fast täglich von ihren Eltern oder Bezugspersonen misshandelt oder zu sexuellen Handlungen gezwungen. Sie haben ständig Angst und leben in Bedrohung. Wie sollen sie das aushalten? Wohin sollen sie fliehen? Gegen wen sollen sie kämpfen? Gegen die Menschen, denen sie doch vertrauen? Sie fühlen Ohnmacht. Durch die chronische Traumatisierung sind ihre Körperzellen mittlerweile so empfindlich auf die Hormone, dass sie bei jeder Gelegenheit und nur ganz leichter Erhöhung schon Hoch-Stress-Level auslösen können. Der Aufbau ihrer neuronalen Netzwerke wird dadurch gehemmt. Eine sichere, liebevolle, lernanregende Umgebung für die gesunde Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit ist ihnen verwehrt. Das ist ein Stein des Anstoßes. Das prägt ihre Zellen, das prägt ihre Seele, das prägt ihr Leben.
Schule als sicherer Ort?
Wenn also das eigene Zuhause Kindern keinen geschützten und Halt gebenden Raum bietet, ist es doch umso notwendiger die Orte, an denen Kinder sich aufhalten (müssen) als sichere Orte der Entfaltung zu gestalten.
Ich wünschte, wir könnten jetzt die geforderte Umsetzung des „Artikels 24 im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK)“ als Anstoß des Steines nehmen, um Schule als sicheren Lernraum neu zu denken und zu gestalten. Denn traumatisierte Kinder werden durch ihre Lebensumstände in ihrer körperlichen, emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung behindert und sind damit von Behinderung bedroht.
Wie sollen sie sich konzentrieren auf Fachinhalte, wenn ihre Seele weint. Manche Kinder versuchen verzweifelt unerkannt zu bleiben, andere zeigen sich auffällig durch selbst-aggressives, provozierendes, weinerliches, bockiges, respektloses Verhalten. Hier kommt ganz klar zum Ausdruck, dass das Kind, welches Probleme bereitet, nicht das Problem ist, sondern Probleme hat. Multifaktoriell.
In diesem Zusammenhang fand eine deutsche Studie (Egle u.a., 2005), die sich mit potenziell traumatischen Situationsfaktoren beschäftigt, folgende als signifikant heraus:
niedriger sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie, schlechte Schulbildung der Eltern, Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils, Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle“, große Familien und sehr wenig Wohnraum, chronische Disharmonie, unsicheres Bindungsverhalten nach dem 12./18. Lebensmonat, psychische Störungen der Mutter oder des Vaters, alleinerziehende Mutter, autoritäres väterliches Verhalten, Verlust der Mutter, häufig wechselnde frühe Beziehungen, sexueller und/oder aggressiver Missbrauch, schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen, ein Altersabstand zum nächsten Geschwister von unter 18 Monaten.
Ein Faktor allein hat nur geringe Wirkung, treten dagegen mehr als 2 Faktoren auf, so vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Entwicklungsstörungen auftreten.
Hinzukommt in vielen Fällen die wenig support gebende Struktur von Schule. In großen Schulsystemen taktet es schnell durch Raumwechsel, Fächerwechsel und Lehrerwechsel. Doch die Isolierung von Fachinhalten ohne Lebensbedeutsamkeit, der ständige Personenwechsel ohne den Nachhaltigkeitskitt des Beziehungsfaktors lassen das Wissen bei traumatisierten Kindern durch die neuronalen Netze rieseln. Es wiederzufinden und zu verknüpfen fällt ihnen doppelt schwer, beschämende Unterrichtssituationen verstärken den bereits beschriebenen Stressfaktor. Ein Teufelskreis.
Welche Möglichkeiten haben Lehrer und Lehrerinnen in diesem funktionsorientierten Alltag, das unangemessene Verhalten als einen Hilferuf zu dekodieren und den Kindern die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie besser lernen und leben können?
Diese Fragen muss Schule beantworten können. Ein Ignorieren dieser Aufgabe kommt unterlassener Hilfeleistung gleich. Wir brauchen jetzt den Mut zu ungewöhnlichen Wegen. Diese Kinder brauchen eine andere Lern-Kultur. Sie brauchen Sicherheit, dann sind Lern-Sprünge statt Lern-Behinderungen möglich.
Ich wünsche mir in Schule offenere Lernräume, Rhythmisierung und Möglichkeiten zur Erfahrung von Selbstwirksamkeit für Schüler und Lehrer im Team. Ich wünsche mir das Achtsam sein, das Hinschauen, das Unterschiede wahrnehmen, das Ermutigen, sich Zeit nehmen nicht nur als professionelle Qualitäten von Schulsozialarbeitern und Beratungslehrerinnen, sondern als pädagogische Professionalität für alle Lehrer und Lehrerinnen.
Es geht darum, traumatisierten Kindern zu helfen, wieder ein sicheres Netz aufzubauen. Innen und Außen- also neuronal und als Ort, an dem man sich wohlfühlt.
Damit kein Kind am Lernen gehindert wird.
Read Full Post »